„Menschen werden verschlissen und anschließend entsorgt!“

Prälat Peter Kossen (l.), Pfarrer in Lengerich, und Dr. Florian Kossen, hausärztlich tätiger Internist in Goldenstedt, erheben schwere Vorwürfe gegen die Verantwortlichen in der Fleischindustrie: „Menschen werden benutzt, verbraucht, verschlissen und dann entsorgt!“ Foto: privat

Lengerich

Lengerich. Arbeitsmigranten aus Rumänien, Bulgarien und Polen behandelt Dr. Florian Kossen täglich in seiner allgemeinmedizinischen Praxis. Sie arbeiten in Großschlachthöfen in Wildeshausen, Ahlhorn und Lohne. Was er sieht und hört, macht den Mediziner fassungslos und zornig.

Die Totalerschöpfung der Patientinnen und Patienten sei fast schon alltäglich, heißt es in der Pressemeldung: „Viele arbeiten sechs Tage in der Woche und zwölf Stunden am Tag. Sie haben keine Möglichkeit der Regeneration, weil sie durch ihre Arbeits- und Lebensbedingungen ständig physisch und psychisch unter Druck stehen.

Daraus resultieren eine ganze Reihe von Krankheitssymptomen: Von Überlastungsschäden im Bereich der Extremitäten und Wirbelsäule über psychovegetative Dekompensationen bis hin zu wiederholten oder hartnäckigen Infekten durch mangelhafte hygienische Zustände in den Unterkünften und gesundheitswidrige Bedingungen an den Arbeitsplätzen. Aber auch eine totale körperliche Erschöpfung, wie ich sie in meinen 20 Jahren ärztlicher Tätigkeit vorher selten gesehen habe.“ Arbeitsunfälle wie Schnittverletzungen seien an der Tagesordnung.

„Häufig lassen sich die Verletzten aber nicht krankschreiben, weil ihnen vom Arbeitgeber ganz deutlich gesagt wurde: Wer mit dem gelben Schein kommt, kann gehen. So geschehen bei einer Arbeiterin mit einer etwa zehn Zentimeter langen, mit Naht versorgten Schnittwunde, die sie sich bei der Arbeit zugezogen hatte. Trotz mehrmaligen dringenden Anratens lehnte sie eine Krankschreibung ab.“ Verätzungen am ganzen Körper sieht Kossen nach eigenen Angaben bei Patienten, die offenbar für Reinigungsarbeiten in den Schlachthöfen keine ausreichende Schutzkleidung zur Verfügung haben und zudem unter hohem Zeitdruck arbeiten.

„Das berichtete ein Mitarbeiter einer Reinigungskolonne auf einem Großschlachthof in Lohne, der sich, übersät mit ausgeprägtesten Verätzungen am ganzen Körper, in der Praxis vorstellte. Sämtliche Arbeiter der Reinigungskolonne, so berichtete er, hätten ähnliche Verätzungen, da es zwar Schutzanzüge gäbe, diese jedoch defekt und völlig unzureichend wären.“ Oft erzählen ihm Patienten von Kolleginnen und Kollegen, die aufgrund von Krankheit sofort aussortiert und ersetzt werden. Entsprechend hoch sei der Druck, trotz Krankheit und Schmerzen durchzuhalten, heißt es weiter in dem Bericht.


Prälat Peter Kossen ergänzt: „Der Nachschub von Arbeitskräften geht den Subunternehmern offensichtlich nicht aus. Dafür sorgt ein florierender Menschenhandel.“ Kürzlich hat ein bulgarischer Werkvertrags-Arbeiter eines Großschlachthofs in Wildeshausen dem Arzt Kossen seine Lohnabrechnung gezeigt: 1.200 Euro für 255 geleistete Arbeitsstunden. „Zur Ausbeutung kommt die Demütigung: Du bist, deine Arbeitskraft ist, nicht mehr wert!“ Prälat Kossen ergänzt: „Durch die Arbeitszeiten sind die Betroffenen über Jahre hin nicht in der Lage, Sprachkurse oder Integrationsangebote wahrzunehmen. So sprechen viele kaum Deutsch. Rund um die Uhr haben sie bereitzustehen, Arbeit wird häufig kurzfristig per SMS befohlen, Überstunden werden nicht selten spontan angeordnet.“

Die Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben in den Orten sei dadurch sehr erschwert. „Eine Integration der Arbeiter und ihrer Familien findet kaum statt. Parallelwelten sind entstanden.“ Ein Übriges tue die auf Abschottung angelegte Unterbringung. „Rattenlöcher, die zu Wuchermieten mit Werkvertrags- und Leiharbeitern vollgestopft werden“, daran hätte sich nach dem Eindruck der Brüder flächendeckend nichts verändert. „Wenn hier nicht Unternehmer und Kommunen für einen sozialen Wohnungsbau zusammenwirken und Lösungen schaffen, wird sich absehbar nichts ändern, und das Elend und die Abzocke nehmen ihren Lauf“, ist Prälat Kossen sicher. Florian und Peter Kossen fordern: „Das Ausbeuten und Verschleißen von Menschen muss ein Ende haben! Es braucht einen Systemwechsel – jetzt!“


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