Fachberatungsstelle gegen sexualisierte Gewalt hilft seit einem Jahr in Rheine

Seit einem Jahr helfen sie Frauen in Rheine, die sexualisierte Gewalt erlebt haben: Agnes Denkler (links) und Ria Mester von der Fachberatungsstelle gegen sexualisierte Gewalt. Foto: Fachberatungsstelle gegen sexualisierte Gewalt

Rheine

Rheine. Es ist kein neues Phänomen, aber eines, das in den letzten Jahren zunehmend in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt ist: Frauen und Mädchen, die in der Öffentlichkeit „angemacht“ oder verbal sexuell belästigt, die ungewollt angefasst oder gar vergewaltigt werden – und unter den Folgen dieser Übergriffe zum Teil massiv leiden.

 

 

Hilfe finden diese Opfer bereits seit einem Jahr bei Ria Mester und Agnes Denkler von der Fachberatungsstelle gegen sexualisierte Gewalt des Diakonischen Werks in Rheine. Die Fachberatungsstelle gegen sexualisierte Gewalt gibt es seit dem 1. April 2019. Sie ergänzt das Angebot der Frauenberatungsstelle, die es bereits seit 2011 gibt. Über ihre wichtige Arbeit sprechen die beiden Frauen im Interview.

Seit einem Jahr beraten und begleiten Sie Frauen zum Thema „sexualisierte Gewalt“. Wie viele Frauen haben das Angebot seitdem in Anspruch genommen?

Ria Mester: Im letzten Jahr haben 47 Frauen unser Angebot in Anspruch genommen und sind von uns zum Thema sexualisierte Gewalt beraten und unterstützt worden.

Wie viele Frauen in Deutschland erleben sexualisierte Gewalt? Und wie sieht es im Kreis Steinfurt aus?

Mester: Fast jede siebte Frau in Deutschland ist von sexueller Gewalt betroffen. 13 Prozent der in Deutschland lebenden Frauen haben seit ihrem 16. Lebensjahr strafrechtlich relevante Formen sexueller Gewalt erlebt. Das heißt Vergewaltigung, versuchte Vergewaltigung oder unterschiedliche Formen von sexueller Nötigung. Im Kreis Steinfurt sind im Jahr 2019 336 Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung angezeigt worden. Darin enthalten waren 38 angezeigte Vergewaltigungen. Allerdings zeigen Dunkelfeldstudien auf, dass nur zirka 5 bis 15 Prozent aller Vergewaltigungen angezeigt werden, die Dunkelziffer also extrem hoch ist.

Welche Frauen melden sich bei Ihnen?

Agnes Denkler: Frauen melden sich entweder von sich aus bei uns oder werden über Institutionen oder die Polizei vermittelt, also nach einer Anzeige. Es sind junge Frauen und ältere Frauen. Frauen, die sexuelle Belästigung durch den Nachbarn oder am Arbeitsplatz erleben. Frauen, die vom Partner oder Ehemann vergewaltigt wurden. Frauen, die auf Partys unter K.O.-Tropfen vergewaltigt oder sexuell belästigt wurden oder in ihrer Kindheit sexuellen Missbrauch erlebt haben.

Welche Fragen haben die Frauen? Was erhoffen sie sich von Ihnen?

Mester: Das Wichtigste ist erst einmal, dass den Frauen geglaubt wird und sie sich – oft zum ersten Mal – trauen, uns ihre Erlebnisse zu erzählen. Das erfordert für viele Frauen schon großen Mut, diesen ersten Schritt zu gehen. Viele Frauen haben Angst, dass ihnen nicht geglaubt wird und fühlen sich oft mitschuldig an dem, was ihnen passiert ist. Deswegen ist es ganz wichtig, den Frauen zu sagen: Die Schuld liegt immer alleine beim Täter! Dann entscheidet jede Frau für sich, wie es weitergehen soll. Will sie eine Anzeige bei der Polizei machen oder nicht? Will sie regelmäßige Gespräche und Unterstützung durch uns? Braucht sie weiterführende Informationen oder eine Begleitung beispielsweise zu Gericht? Wir richten uns ganz nach den individuellen Bedürfnissen der Frauen und jede Frau trifft ihre eigene Entscheidung darüber, wie es für sie weitergehen soll.

Die Frauenberatungsstelle in Rheine gibt es bereits seit 2011. Warum war es nötig, die Fachberatungsstelle gegen sexualisierte Gewalt als zusätzliches Angebot ins Leben zu rufen?

Denkler: Der Schwerpunkt der Frauenberatungsstelle ist und war die Beratung, Begleitung und Unterstützung von Frauen, die von häuslicher Gewalt betroffen sind. Sehr bald zeigte sich, dass eine umfassende Unterstützung von Frauen, die sexualisierte Gewalt erlebt haben, aufgrund von zeitlichen Kapazitäten nicht möglich war. Der Bedarf war gegeben und die Unterstützungsmöglichkeiten fehlten. Im gesamten Kreis Steinfurt gab es kein explizites Beratungsangebot.

Ein anzüglicher Spruch am Arbeitsplatz, die Hand auf dem Oberschenkel: Wo „beginnt“ sexualisierte Gewalt?

Mester: Sie beginnt schon bei sexueller Belästigung in Form von unangenehmen, taxierenden, anzüglichen Blicken, Gesten oder Äußerungen. Auch die Veröffentlichung oder Zusendung von intimen Bildern oder Chatverläufe über digitale und soziale Medien ist digitale Gewalt. Auch die sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz, sexueller Missbrauch in der Kindheit bis hin zu Vergewaltigung und sexuelle Nötigung sind Formen sexualisierter Gewalt.

Wie kann ich mich als Angehöriger oder Freundin verhalten, wenn ich merke, dass da etwas nicht stimmt?

Denkler: Als Unterstützerin oder Unterstützer kann ich die Frau ansprechen und ihr signalisieren, dass ich merke, dass etwas anders bei ihr ist. Ich kann ihr Hilfe und ein „offenes Ohr“ anbieten. Dabei ist es wichtig, die Gefühle der Betroffenen ernst zu nehmen, und das, was geschehen ist, nicht zu bagatellisieren, auch wenn es sich um scheinbar „harmlose“ Anspielungen oder Bemerkungen handelt. Zuhören, Solidarität zeigen und Hilfe anbieten beziehungsweise die Frau danach fragen, was helfen würde. Ebenfalls besteht die Möglichkeit, auf die Fachberatungsstelle zu verweisen.

Vor einiger Zeit haben Sie in Rheine die Luisa-Kampagne gestartet. Was hat es damit auf sich?

Mester: Die Kampagne ist eine Präventionskampagne und bietet Frauen und Mädchen in der Ausgeh- und Partyszene direkte, niedrigschwellige Hilfe bei sexueller Belästigung. Mit der Frage „Ist Luisa hier?“ können sich Frauen in Gaststätten, Kneipen, Bars und Clubs an das zuvor geschulte Personal wenden und entsprechend Unterstützung bekommen. In Rheine beteiligen sich mittlerweile sieben Lokale an dieser Aktion, zum Beispiel das Yesss Music, das Köpi und das Extrablatt. Die Luisa-Kampagne ist ein Teil unserer Öffentlichkeits- und Präventionsarbeit. Dazu gehört auch, dass wir Projekte zum Thema „Prävention – Sexualisierte Gewalt“ an Schulen durchführen.

Welches Erlebnis aus einem Jahr Fachberatungsstelle ist Ihnen ganz besonders in Erinnerung geblieben?

Denkler: Als wir nach zirka einem Monat „unseren“ frischgedruckten Flyer in den Händen hielten und diesen dann endlich weiträumig verteilen konnten, um damit auf unser neues Unterstützungsgebot aufmerksam zu machen!

Welche Botschaft möchten Sie an Betroffene sexualisierter Gewalt weitergeben?

Denkler: Sie sind nicht alleine, sexualisierte Gewalt erleben leider sehr viele Frauen. Darüber zu sprechen, sich jemandem anzuvertrauen und mit dem Erlebten nicht alleine zu bleiben, ist hilfreich! Völlig unabhängig von Ihrem Verhalten, Ihrer Kleidung, Ihrem Auftreten – Sie trifft keine Schuld!

Täglich von sexualisierter Gewalt zu hören – das muss für Sie und Ihre Kollegin auch eine enorme Belastung sein. Wie gehen Sie damit um?

Mester: Mit dem Tabu-Thema sexualisierte Gewalt konfrontiert zu sein, ist sicherlich eine Herausforderung. Hilfreich ist in erster Linie das Fachwissen, welches wir als Traumafachberaterinnen haben. Auch der regelmäßige Austausch mit meiner Kollegin oder Supervision sind Unterstützungsmöglichkeiten. Ebenfalls sind die positiven Rückmeldungen unserer Klientinnen eine wichtige Motivationsgrundlage.

Welchen Ausblick haben Sie für Ihre weitere Arbeit?

Denkler: Wir möchten auf jeden Fall die Präventions- und Öffentlichkeitsarbeit verstärken, damit das Thema sexualisierte Gewalt immer weiter in unserer Gesellschaft enttabuisiert wird. Dazu bieten wir Vorträge, Informationsveranstaltungen und Schulprojekte an. Interessierte können sich gerne bei uns in der Beratungsstelle melden. Auch in Zeiten der Corona-Krise sind wir telefonisch oder per E-Mail erreichbar.

Die Fachberatungsstelle gegen sexualisierte Gewalt bietet konkrete Hilfen von Frauen für Frauen an, die sexualisierte Gewalt erlebt haben. Die Unterstützung erfolgt durch Krisenintervention, psychosoziale Beratung und Begleitung zu anderen Einrichtungen und Behörden.

Kontakt und Infos: Telefonisch unter 05971 / 8009292 oder per Mail an Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!.


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