Erste ukrainische Geflüchtete mit deutschem Schulabschluss

Das Abschlusssemester im Januar 2024. Foto: Abendrealschule Rheine

Rheine

Rheine. Erstmals haben ukrainische Schülerinnen und Schüler, die vor eineinhalb Jahren ihre Heimat wegen des brutalen russischen Angriffskriegs verlassen mussten, ihren deutschen Schulabschluss am Weiterbildungskolleg Rheine gemacht. Insgesamt haben 14 Absolventinnen und Absolventen ihre Abschlusszeugnisse bekommen.

Vor zwei Jahren waren Miriam, Daria und Anna noch mit ihren Freunden in der Ukraine, jede auf einer anderen Schule, alle mit dem gleichen Ziel – bald Abitur zu machen. Deutsch spielte dabei als die zweite Fremdsprache nur eine untergeordnete Rolle.

Dass sie zum wichtigsten Fach werden könnte, hatte keine von den drei Mädchen gedacht. Doch dann kam plötzlich der Krieg, die Träume von einer baldigen Reifeprüfung und Studium zerplatzten wie Seifenblasen. Alle kamen auf verschiedenen Wegen aus Charkiw und Odessa nach Rheine und landeten in einer Willkommensklasse an dem Weiterbildungskolleg in Rheine.

Die 17-jährige Daria Kuschnirenko hatte Glück, dass ihre Familie schon seit 20 Jahren in Deutschland wohnte und sie mit offenen Armen aufgenommen hat. Dank guter Deutschkenntnisse konnte sie auch in der Schule schnell in die Regelklasse wechseln und hält mit der Zeugnisübergabe ihren Realschulabschluss mit dem Notendurchschnitt 1,1 stolz in der Hand.

„Ich bin sehr dankbar, dass ich diese Erfahrung in meinem Leben machen durfte, eine Schule im Ausland zu besuchen“, sagt Kuschnirenko. „Es ist furchtbar frustrierend, wenn man plötzlich alles von vorne anfangen muss, aber das Wichtigste im Leben ist es, neugierig zu sein, denn Bildung ist der Schlüssel zum Erfolg“, betont die 17-Jährige. Sie wechselt jetzt zum Emsland-Gymnasium, um dort das Abitur anzustreben. Und noch etwas: Die ukrainische Reifeprüfung hat sie nebenbei auch schon online gemacht.

Ihre bisherige Klassenkameradin Anna Diageleva hat noch etwas anderes dazugelernt, nämlich, dass man nie im Leben das Wort „nie“ sagen soll. Noch vor zwei Jahren beschwerte sie sich bitter bei ihrer Lehrerin in der Ukraine, warum sie Deutsch lernen müsse. „Die Sprache werde ich doch niemals gebrauchen, ich will doch nie nach Deutschland fahren, habe ich ihr gesagt. Das Land und die Leute hier fand ich immer irgendwie komisch“, erinnert sich Anna Diageleva. „Jetzt als ich alles kennengelernt habe und viel mit den Menschen hier gesprochen habe, bin ich begeistert. Ihr seid doch richtig cool“, sagt Diageleva.

Miriams Weg zum Abschluss war dornenreich. Die 18-Jährige musste schon das zweite Mal ihr Leben auf den Kopf stellen. Zunächst ist sie vor Terror und Armut aus dem Libanon in die Ukraine geflüchtet. Kaum hatte sie geschafft, sich dort einzuleben, musste sie erneut vor dem Krieg fliehen - diesmal nach Deutschland. „Es hat mich mächtig runtergezogen, ich hatte echt keine Kraft mehr, aber es muss irgendwie weitergehen“, sagt Miriam. Zusammen mit Anna wird sie jetzt auf den Kaufmännischen Schulen in Rheine ihr Abitur versuchen. Dann will sie studieren und als Ingenieurin arbeiten.

Wie ihre Freundinnen Daria und Anna will auch Miriam für immer in Deutschland bleiben. „In der Ukraine ist alles kaputt, es gibt keine richtige Zukunft für Menschen wie uns“, stellt sie fest. „An das Ende des Krieges glaube ich nicht, ich befürchte, dass es nur noch schlimmer wird“, fügt sie traurig hinzu.

Richtig stolz auf ihre Schülerinnen ist deren Klassenlehrerin aus dem Weiterbildungskolleg Rheine Kristin Jürgens. „Sie sind so unglaublich ehrgeizig und zielstrebig. Das ist leider nicht bei allen ukrainischen Schülerinnen und Schüler so, die zu uns kommen“, berichtet die 33-Jährige. „Oft dauert es lange, bis sie angekommen sind, die Angst und die Frustration überwunden haben. Hoffentlich können ihnen die Erfolge von Daria, Anna und Miriam richtig Mut geben, aufzustehen und weiterzumachen“, hofft Jürgens.

Beinahe jede Woche werden an den Schulen in Rheine neue ukrainische Schülerinnen und Schüler aufgenommen. Im Weiterbildungskolleg Rheine machen sie derzeit knapp 20 Prozent der gesamten Schülerschaft aus.
„Die Integration gelingt gut, da die Ukrainerinnen und Ukrainer ein gut funktionierendes Schulsystem haben und eine sehr gute Vorbildung mit sich bringen“, sagt die Leiterin des Weiterbildungskollegs Rheine, Christiane Beckmann-Veerkamp.

Das WBK Rheine versteht sich als Schule der zweiten Chance. Junge Menschen, sowohl ohne als auch mit Hauptschulabschluss können hier ihre Leistungen verbessern.
Es ist egal, ob man jung oder älter ist, ob man einen deutschen Pass hat oder einen Migrationshintergrund, jeder zwischen 17 und 99 Jahren bekommt hier eine Chance auf eine neue, bessere Zukunft durch Bildung.

 


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