Der Geisterhund – oder: Was ist eine Sage?

In der Nibelungensage wird erzählt, wie alle Krieger der Burgunden in einer Schlacht gegen die Hunnen ihr Leben lassen müssen. Die Schilderung der Schlacht in der Sage beruht auf reiner Fantasie – tatsächlich aber wurde das Reich der Burgunden im Jahr 436 von den Römern mit Hilfe hunnischer Truppen vernichtet.Bild: Alfred Rethel

„War da ein Mann aus Mesum nach Emsdetten gewesen. Bei Nachtzeit musste er durch den Albrock, worin der Fiskediek liegt, nach Hause. Wie er nun durch den Albrock kam, sprang da aus dem Tannenbusch der ‚swatte Rüen‘ (der Schwarze Hund) auf ihn zu.

 

 

Im selben Augenblick war sein Jagdhund verschwunden und an seiner Seite lief der schwarze. Bis kurz vor Mesum, da war auf einmal der eigene Hund wieder neben ihm. Der Mann wurde davon so elendig, dass er kaum noch gehen konnte. Er wurde auch nicht wieder gesund und hat früh sterben müssen.“

Das ist die Sage vom Geisterhund, eine vielleicht viele Hundert Jahre alte, schaurige Geschichte, die man sich im Münsterland in den Dörfern und Städten rund um Emsdetten und Mesum erzählte. Eine „Sage“ – das ist, wie der Name verrät, etwas, das ursprünglich nicht aufgeschrieben, sondern fast ausschließlich „gesagt“, also nur mündlich verbreitet wurde. Was aber vor allem daran lag, dass früher kaum jemand aus dem einfachen Volk lesen oder schreiben konnte.

Eine Sage erzählt oft von Dingen, die in der Wirklichkeit eigentlich nicht passieren können, so wie in der Sage vom Geisterhund: Natürlich verschwindet ein Jagdhund nicht einfach spurlos und taucht dann später wie aus dem Nichts wieder auf. Und natürlich gibt es auch keine Geisterhunde. Spannend und packend wird diese Sage vom Geisterhund aber, weil die Erzähler sie mit echten Orten verknüpft haben, die die Menschen kannten. So werden nicht nur die Orte Emsdetten und Mesum genannt, sondern sogar noch genauere Angaben gemacht: Der Tannenbusch, der Fiskediek und der Albrock waren den Menschen, die damals hier lebten, sicher gut bekannt. Den Albrock aus der Sage gibt es sogar noch heute, und in Mesum ist eine Straße (Zum Albrock) nach ihm benannt worden.

Durch die Verknüpfung fantastischer Begebenheiten wie dem Auftauchen eines Geisterhundes mit Orten, die den Zuhörern gut bekannt sind, wird die ganze Geschichte plötzlich glaubwürdig und die Zuhörer gewinnen den Eindruck, die Sage berichte über eine Begebenheit, die sich tatsächlich so abgespielt haben könnte. Manchmal kennen wir nicht nur die Orte, sondern auch die Zeit, in der eine Sage spielt und sogar die handelnden Personen. So zum Beispiel in der Nibelungensage: Darin sind Städte wie Xanten, Flüsse wie Rhein und Donau und Länder wie Ungarn genannt. Auch die Helden und Könige sind dort alle namentlich erwähnt. Von vielen wissen wir sogar sicher, dass sie vor über 1.500 Jahren wirklich gelebt haben und dass einige der in der Sage erzählten Handlungen tatsächlich so geschehen sind. Auf der anderen Seite wird in der Nibelungensage von Tarnkappen, einem magischen Ring, Drachen und unverwundbaren Helden erzählt – Dingen also, die ganz der Fantasie entsprungen sind.

Das alles unterscheidet eine Sage von einem Märchen, dessen Handlung komplett erfunden ist. Auch werden in Märchen weder Zeit noch Ort der Handlung exakt beschrieben. Die Handlung spielt irgendwo „in einem dunklen Wald“ oder „hinter den sieben Bergen“. Niemals gibt es im Märchen einen Anhaltspunkt, wann sich die Geschichte abgespielt haben könnte: „Es war einmal...“, heißt es meist. Und sehr oft wird nur die Hauptperson bei ihrem Namen genannt.
Legenden übrigens sind sehr eng mit der Sage verwandt. Auch hier werden tatsächliche Begebenheiten mit der Fantasie vermischt. Der Name „Legende“ kommt aus der lateinischen Sprache und bedeutet übersetzt etwa „das zu Lesende“. Im Gegensatz zur Sage wurde eine Legende nämlich von Anfang an aufgeschrieben und gelesen oder vorgelesen.

Autor: Holger Podszun